Im Sturm der Krisen: Warum wir als Gesellschaft neu lernen müssen, mit Angst umzugehen

Angstbewältigung in Krisenzeiten

Zwischen Gaza, Donezk und dem deutschen Talkshowstudio flackert das Weltgeschehen wie eine Endlosschleife des Kontrollverlusts. 

Kriege, Klima, Migration – es sind nicht nur die Ereignisse selbst, die unsere Gesellschaft erschüttern. Es ist vor allem das, was sie in uns auslösen: Angst. Doch während die Fakten Schlagzeilen machen, bleibt die Angst oft sprachlos zurück – unbeachtet, unterschätzt, unbesprochen.

Das Gefühl eines permanenten Ausnahmezustands. Derzeit erleben wir eine Gleichzeitigkeit von Krisen, die so global wie persönlich wirken. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas, die nukleare Rhetorik des Iran, der zermürbende Stellungskrieg in der Ukraine – sie alle speisen ein Gefühl kollektiver Bedrohung. Parallel dazu spitzt sich die Klimakrise zu: Hitzewellen, Überschwemmungen, Waldbrände – sichtbar, messbar, aber emotional oft verdrängt.

Und unser derzeit stärkstes aufheizendes Moment: die Migrationsentwicklung. Durch Medien angefeuert und  von der Politik instrumentalisiert, schwappt dieses Bedürfnis, sich abzuschotten, nicht nur durch Deutschland, sondern durch ganz Europa und Nordamerika. Nicht, weil Menschen in Bewegung etwas Neues wären – sondern weil die gesellschaftliche Reaktion darauf immer emotionaler, irrationaler und aggressiver wird.

Ein UN-Bericht spricht von Millionen Ausreisewilligen allein in Ländern wie Mali oder Niger – das reale oder imaginierte Bild einer „Migrationswelle“ wirkt wie ein Brandbeschleuniger in einer Gesellschaft, die ohnehin unter Stress steht. Migration wird so nicht als Ausdruck globaler Ungleichheit verstanden, sondern als Bedrohung einer brüchigen Ordnung.

Gesellschaftliche Reaktionen: Rückzug, Projektion, Verhärtung. In diesem Klima der Überforderung geraten Diskurse aus dem Gleichgewicht. Angst wird selten als legitime Reaktion besprochen – sondern als politische Waffe instrumentalisiert. Wer Angst hat, neigt zu Vereinfachungen. Wer sich ohnmächtig fühlt, sucht nach Schuldigen. Die Folge: Polarisierung, Eskalation, Abschottung.

So entsteht ein toxisches Dreieck aus Kontrollverlust, sozialem Misstrauen und moralischer Überforderung. Die Angst spricht nicht mit uns – sie spricht durch uns. Sie formt unser Verhalten, ohne dass wir sie benennen. Sie entscheidet über Haltung, bevor wir überhaupt nachgedacht haben.

Die Außen-Perspektive: Uns fehlt die Sprache für kollektive Angst. Als Gesellschaft haben wir keine tragfähige Praxis entwickelt, um mit kollektiver Angst produktiv umzugehen. In Medien, Politik und Alltagsdiskussionen begegnet uns meist nur eine von zwei Haltungen: Entweder Alarmismus – oder Abwiegelung. Dazwischen liegt ein leerer Raum.

Wir wissen viel über die psychologischen Wirkungen von Angst auf Individuen, aber kaum etwas darüber, was Angst mit Demokratien macht. Dabei ist Angst hochinfektiös – sie verbindet sich mit Unsicherheit, beschädigt Vertrauen, schwächt Diskurse. Demokratien brauchen jedoch keine Angstfreiheit. Sie brauchen angstfähige Gesellschaften.

Wie könnten wir sein, wenn wir Räume hätten, in denen Angst als Gefühl vorkommen darf, ohne sofort politisch etikettiert oder moralisch bewertet zu werden? Was, wenn wir lernen würden, Angst zu verstehen – nicht als Schwäche, sondern als Signal?

Genau dafür braucht es gesellschaftliche Erfahrungsräume. Wir wachsen nicht mit einer intuitiven demokratischen Haltung auf – wir müssen sie erlernen, einüben, entwickeln. In einer diversen, komplexen Gesellschaft reicht es nicht, demokratische Prinzipien zu „vermitteln“ wie ein Unterrichtsfach. Demokratie ist eine soziale Praxis – und diese Praxis beginnt nicht erst im Parlament, sondern im Alltag: im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft.

Studienverweis: Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) stellt in mehreren Untersuchungen fest, dass Demokratiebildung in Schulen und Kitas zwar politisch gewünscht, aber strukturell unterentwickelt ist. Die Studie „Demokratiebildung in der Kita“ (DJI 2020) zeigt, dass selbst pädagogische Fachkräfte oft keine klaren Konzepte für Beteiligung und Umgang mit Differenz haben.

Demokratie braucht ein emotionales Fundament: Wertschätzung, Respekt, Konfliktfähigkeit. Doch diese Haltungen entstehen nicht durch Appelle – sondern durch Erfahrung. Gerade Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen, sozialen oder familiären Prägungen erleben die demokratische Öffentlichkeit oft nicht als sicheren Ort. Das betrifft nicht nur migrantische Gruppen, sondern ebenso Menschen aus sozial benachteiligten Milieus, mit autoritären Erziehungserfahrungen oder biografisch tiefsitzender Unsicherheit.

Studienverweis: Die Bertelsmann Stiftung zeigt in der Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023“, dass Vertrauen in Demokratie eng mit frühkindlicher Partizipation, Schulklima und sozialer Anerkennung korreliert. Wer sich früh gehört und respektiert fühlt, zeigt später höhere Bereitschaft zum Dialog – auch unter Spannung.

Deshalb ist das „Üben“ demokratischer Haltungen kein Kinderkram – sondern die Grundlage gesellschaftlicher Stabilität. Neuere Ansätze wie „Social and Emotional Learning“ (SEL), international stark rezipiert (u. a. durch CASEL in den USA), belegen, dass emotionale Bildung nicht nur individuelles Wohlbefinden, sondern auch gesellschaftliche Kohäsion stärkt – besonders in polarisierten Zeiten.

Demokratische Selbstwirksamkeit: Räume statt Rezepte. Die Antwort auf Angst kann nicht nur Information sein. Sie braucht Beziehung. Resonanz. Erfahrung. Deshalb reicht es nicht, auf politische Maßnahmen oder mediale Aufklärung zu hoffen. Was wir brauchen, sind neue Erfahrungsräume, in denen gesellschaftliche Unsicherheiten kollektiv verhandelt werden können – offen, ehrlich, konflikttolerant.

Diese Räume dürfen keine Filterblasen sein – aber auch keine Bühnen für Belehrung. Sie müssen Zwischenräume sein: zwischen Meinung und Erkenntnis, zwischen Emotion und Reflexion, zwischen Konflikt und Gemeinschaft.

Ein Beispiel aus der Praxis: Das Betzavta-Modell („Mehr als eine Demokratie“) des Adam-Instituts (Israel) wird europaweit in der Demokratiebildung eingesetzt, um Demokratie als Haltung und Beziehung mit verschiedenen Übungen und Experimenten erfahrbar zu machen – durch Perspektivwechsel, Aushandlung und Ambiguitätstoleranz. Ein aktuelles Beispiel wurde vor kurzem vom ORF produziert und gesendet: Das Demokratieexperiment:

Forschungshinweis: Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz und die Soziologin Hannah Pool sprechen in ihrer Arbeit zur „epistemischen Demokratie“ davon, dass moderne Demokratien nicht nur auf Mitbestimmung, sondern auf lernende Selbstverständigung angewiesen sind – insbesondere in Krisenzeiten.

Ein Aufruf zur Reifung. Krisen sind nicht das Ende der Demokratie. Sie sind ihr Härtetest. Doch damit Demokratien überleben, müssen wir mehr tun als Wahlen abhalten. Wir müssen lernen, als Gesellschaft mit Unsicherheit zu leben, ohne uns gegenseitig zu verlieren.

Es braucht keine neuen Meinungen – sondern neue Haltungen. Keine einfachen Antworten – sondern bessere Fragen. Keine Flucht in Schuld oder Scham – sondern ein kollektives Innehalten, das sagt: „Wir sehen die Angst. Wir spüren sie. Und wir sprechen trotzdem weiter miteinander.“

Demokratie ist kein Versprechen auf Sicherheit – sondern auf Gestaltung. Angst gehört dazu. Aber sie darf nicht unser Denken übernehmen. Denn: Der Mensch ist kein Fluchtwesen – aber ein Beziehungswesen. Die Frage ist nicht, ob wir Angst haben. Die Frage ist, ob wir gemeinsam angstfähig werden.

Hier setzen hier mit  ZOON e.V. an: Sie schaffen Erfahrungsräume, in denen man Demokratie nicht erklärt bekommt – sondern erfährt. Wo Angst nicht weggeschoben wird, sondern sichtbar sein darf. Wo Menschen mit völlig unterschiedlichem Hintergrund sich selbst und einander erleben – jenseits von Zuschreibungen.

Literatur- & Quellenliste (Auswahl)

  1. DJI (2020): Demokratiebildung in der Kita. Konzepte, Herausforderungen, Praxisbeispiele. Deutsches Jugendinstitut. www.dji.de
  2. Bertelsmann Stiftung (2022): Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland. Regional, sozial, verletzlich. www.bertelsmann-stiftung.de
  3. Hartmut Rosa (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag.
  4. Martha Nussbaum (2018): The Monarchy of Fear: A Philosopher Looks at Our Political Crisis. Simon & Schuster.
  5. Patrizia Nanz / Hannah Pool (2021): Demokratie als Lernprozess. Für eine epistemische Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 38/2021.
  6. Betzavta-Modell (Adam Institute). www.adaminstitute.org.il
  7. CASEL (Collaborative for Academic, Social, and Emotional Learning): Internationale Plattform für Social and Emotional Learning. www.casel.org
  8. IOM / UNHCR Migration Reports (aktuellste Zahlen 2024) https://www.iom.int / https://www.unhcr.org
  9. 9. Fear Factor: The Role of Fear in a Liberal Democracy von Sasha StillmanPepperdine University. https://digitalcommons.pepperdine.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1037&context=sturesearch&utmm

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