Es gibt Zeiten, die fordern uns, als Gesellschaft, als Einzelne, als Demokrat:innen. Wir leben in einer Phase multipler Erschütterungen: gesellschaftlich, geopolitisch, ökologisch.
Der Ton wird rauer, Debatten verlieren an Tiefe, Worte spalten häufiger, als dass sie verbinden. Immer öfter erleben wir, wie Komplexität durch Parolen ersetzt wird, wie autoritäre Gesten als Entschlossenheit verkauft werden – und wie Sprache zu einem Instrument der Verrohung wird.
Warum ein moderner Humanismus Kompass für demokratische Resilienz sein kann
In den oben beschriebenen Momenten stellt sich die Frage: Was hält uns? Was trägt uns persönlich wie gesellschaftlich?
Wenn ich eines aus meinem beruflichen Weg als Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Unternehmerin gelernt habe, dann ist es dies: Demokratien überstehen Krisen nicht durch Lautstärke, sondern durch Haltung. Haltung zeigt sich im Umgang mit Widerspruch. Sie beginnt in der Sprache, die nicht eskaliert, sondern Perspektiven öffnet für ein gemeinsames Morgen.
Was also kann uns Orientierung geben? Welche Ressource steht uns zur Verfügung, wenn wir weder abstumpfen noch „mitbrüllen“ wollen?
Ich finde meine Antwort in einem modernen Humanismus, einem Wertekompass, der auf der unverrückbaren Würde jedes Menschen basiert. Und der uns leiten kann, wenn die Welt um uns herum ins Schwanken gerät. Ob im Diskurs über Migration, Vielfalt, Chancengleichheit oder technologische Disruption: Der moderne Humanismus erinnert uns daran, dass uns mehr verbindet als trennt.
Modern nenne ich diesen Humanismus, weil er mehr ist als ein Bildungsideal vergangener Jahrhunderte. Er bedeutet heute: Verantwortung für das System zu übernehmen, in dem wir leben und arbeiten. Er erinnert uns daran, dass Demokratie kein Konsumgut ist und gesellschaftliches Miteinander keine Dienstleistung, die jederzeit passgenau liefern muss. Wer in einer komplexen, vielfältigen Gesellschaft lebt, kann nicht erwarten, dass jede Facette auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist. Und nicht immer sind „die anderen“ schuld, wenn uns etwas fehlt.
Humanismus fordert Selbstreflexion und lädt ein, sich nicht im Rückzug oder Zynismus einzurichten, sondern Verbindung zu suchen. Verbindung mit den Menschen, mit einer gemeinsamen Idee von Zukunft, mit dem Willen, Unterschiedlichkeit als Stärke zu begreifen. Das kann uns halten und sogar resilienter machen in Zeiten von Katastrophenmeldungen.
Wo ist dieser Humanismus heute spürbar? In Führung, in Kommunikation, im gesellschaftlichen Zusammenleben. Er ist bei Unternehmen, die sich einem entsprechenden Wertesystem verpflichtet fühlen, Leitlinie für unternehmerische Entscheidungen etwa bei Diversity-Konzepten oder sozialer Nachhaltigkeit. Und er ist ebenso Grundlage und Stütze für eine lebendige, starke Demokratie. Nur wer sich als Teil eines Ganzen versteht, wird bereit sein, Verantwortung zu tragen. Das gilt auch für Arbeitgeber. Sie sind Teil unserer Demokratie und können deshalb nicht neutral bleiben.
Der Humanismus der Gegenwart verbindet Selbstwirksamkeit mit sozialer Verantwortung, wirtschaftlichen Erfolg mit Sinnstiftung. Und ja: auch politische Bildung mit Unternehmertum. Ich selbst biete Demokratieformate für Schulen an und bin nun auch Teil des Vereins ZO-ON, der Demokratiebildung gezielt in Unternehmen bringt.
Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die mit 103 Jahren verstarb, hinterlässt folgenden Appell, der aktueller kaum sein könnte:
„Seid wachsam. Seid Menschen.“
Ihr Appell ist keine Erinnerung, er ist ein Auftrag. Auch für Unternehmen.
Demokratie braucht nicht nur Zustimmung, sondern sie braucht Mitgestaltung.
Sie ist kein Selbstläufer. Der moderne Humanismus bietet dafür die Brücke:
Zwischen unternehmerischem Denken und gesellschaftlicher Verantwortung.
Zwischen Alltag und Zukunft. Zwischen Ich und Wir.
Es ist Zeit, nicht mehr nur zu wirtschaften, sondern zu wirken.
Autorin: Alexandra Leibfried
Bild: Freepik
Weiterführende Literatur:
Sarah Bakewell: Wie man Mensch wird (C.H.Beck Verlag, 2025)
Erklärung des modernen Humanismus (Humanists International 2022)


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