Ich habe als migrantisches Kind aus prekären Verhältnissen ohne Vorkenntnisse Klavier spielen gelernt. Improvisation war mein Zugang. Ich lernte, zu hören. Zu antworten. Zu wiederholen, zu wagen, zu verwerfen. Ich wurde besser und konnte bald mithalten, nicht weil ich die Theorie beherrschte, sondern weil ich Resonanz spürte.
Erst heute verstehe ich: Diese Erfahrung war mehr als Musik, es war mein stiller Moment demokratischer Selbstwirksamkeit.
Denn Demokratie ist kein starres System, sondern ein lebendiger Klangkörper. So beschreibt es Ute Scheub in ihrem Buch Demokratie. Die Unvollendete
„Demokratie ist ein Klangkörper“ (Scheub 2017, Kap. 1)
Sie betont, dass Demokratie nicht von Einstimmigkeit lebt, sondern von Vielstimmigkeit, Dissonanz, Spannung und Auflösung, wie ein gutes Musikstück. Sie ist kein System für diejenigen, die bereits alles haben, sondern offen für alle Stimmen, auch für die ungeübten und die, die vermeintlich nicht dazugehören. Demokratie lebt, so Scheub, „nicht von Perfektion, sondern von der Kühnheit, sich einzumischen und Dissonanzen auszuhalten“ (Scheub 2017, S. 7–8).
In der Improvisation entsteht Musik durch Beziehung: Ich spiele etwas, höre hin, verändere es. Auch Demokratie braucht genau das: Resonanz. Nicht nur alle vier Jahre ein Kreuz, sondern Antworten, Mitschwingen, Mitgestalten. Scheub spricht von einer „tief greifenden Resonanzstörung zwischen Regierenden und Regierten“ (Scheub 2017, S. 7–8). Was, wenn wir diese Störung nicht nur als Kommunikationsproblem, sondern als musikalisches Missverhältnis betrachten?
Meine erste öffentliche Sprache war Klang. Ich hatte keine Worte, aber ich konnte spielen und ich konnte antworten. Scheub verweist darauf, dass die Stimme in unserer politischen Sprache tief verankert ist: anstimmen, abstimmen, umstimmen, beistimmen, zustimmen, übereinstimmen (Scheub 2017, S. 10–12). Demokratie ist nicht die Verwaltung von Meinungen, sondern die Verkörperung von Stimmen.
Ich habe nie „richtig“ üben gelernt. Aber ich konnte mich in einen Raum stellen, spielen und mich auf andere einstellen. Genau das brauchen wir auch gesellschaftlich: Demokratie als kollektive Improvisation, bei der jede*r sich einbringt, sich vom anderen verändern lässt, zuhört, antwortet, korrigiert, beiträgt. Wie wäre es, wenn wir politische Prozesse als Partituren verstehen, die in jeder Versammlung neu interpretiert werden?
In der Musik gilt: Ohne Spannung keine Lösung, ohne Reibung keine Entwicklung. Auch Demokratie braucht den Mut zur Dissonanz. Scheub nennt dies, auf Hartmut Rosa Bezug nehmend, ein „tönendes Widersprechen“ (Scheub 2017, S. 14–15). Es geht nicht um Konsens, sondern um Verbindung in Differenz.
Ich habe Musik nicht mit dem Kopf gelernt, sondern mit meinem ganzen Wesen. Meine Finger, mein Gehör, mein Bauchgefühl waren meine Lehrer. Politik entsteht ebenso aus Wahrnehmung: Demokratie beginnt nicht im Parlament, sondern im Körper, in Verkörperung, Beziehung, Resonanz (Scheub 2017, Kap. „Ver-Körperungen“).
Wer aus prekären Verhältnissen kommt, kennt das Gefühl: Man soll unsichtbar sein. Doch am Klavier und beim Gesang lernte ich: Deine Stimme zählt nicht trotz deiner Herkunft, sondern weil sie etwas erzählt, was andere nicht hören.
Die beste Improvisation entsteht dort, wo Menschen sich trauen, ohne Sicherheitsnetz zu spielen. Genau das fehlt unserer Politik heute: Zu oft bestimmen jene die Melodie, die nie lernen mussten, aufeinander zu hören. Dabei brauchen wir gerade die Stimmen, die wissen, wie es klingt, wenn Systeme versagen.
Ich bin noch immer keine klassische Pianistin. Aber mein Weg zeigt mir: Demokratie braucht unorthodoxe Stimmen. Sie beginnt dort, wo wir trotz aller Widerstände unseren eigenen Ton finden.
Die wichtigste Lektion?
Das (verstimmte) Klavier macht selbst keine Musik. Aber es kann uns als Instrument dienen, um gemeinsam bewegende, inspirierende Musik zu machen.<
Vielleicht ist Demokratie genau das: ein Wagnis ohne Sicherheitsnetz. Bist du bereit mitzuspielen?
Herzliche Grüße
Melissa
Quelle
Scheub, U. (2017): Demokratie. Die Unvollendete. Ein Buch von Mehr Demokratie e. V.München: oekom. Online verfügbar (PDF)
Bildnachweis
Beitragsbild: ©Melissa Pirouzkar-Moser
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