Die Wiedervereinigung Deutschlands liegt nun über drei Jahrzehnte zurück, doch die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind nach wie vor spürbar. Steffen Mau beleuchtet in seinem Buch “Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt” die Ursachen und Auswirkungen dieser Unterschiede.
Zusätzlich argumentiert die Historikerin Claudia Gatzka in einem Interview mit dem SPIEGEL, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht nur wirtschaftliche, sondern auch tiefgreifende soziale und kulturelle Veränderungen mit sich brachte, die oft übersehen werden (Fischer & Schnurr, 2024).
Im Folgenden fasse ich die zentralen Argumente und Erkenntnisse des Buches sowie die Argumentation Gatzkas zusammen und diskutiere die Chancen und Risiken, die sich daraus ergeben.
„Gerade weil die lange Transformationsphase beendet ist, erkennen wir jetzt deutlicher als zuvor, wie ungleich Ost und West noch immer sind und dass sie es auf absehbare Zeit auch bleiben werden“ (Mau, 2024, S. 11).
Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West haben ihre Wurzeln in den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen nach der Wiedervereinigung. Die DDR verfügte über eine weniger entwickelte Infrastruktur und Wirtschaft, was zu anhaltenden Ungleichheiten führte. Die Planwirtschaft der DDR hatte ineffiziente Produktionsstrukturen und einem Mangel an Wettbewerb zur Folge. Nach der Wiedervereinigung mussten viele Betriebe schließen, was hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Schwäche im Osten mit sich brachte. Diese wirtschaftlichen Unterschiede bestehen weiterhin und beeinflussen die Lebensqualität und die wirtschaftlichen Chancen der Menschen im Osten. In einer Kolumne des Spiegels zum Tag der Deutschen Einheit dieses Jahres argumentiert Henrik Müller, dass der Osten Deutschlands zu viel Aufmerksamkeit erhält und dass die Unterschiede zwischen Ost und West übertrieben dargestellt werden. Müller betont, dass die wirtschaftlichen Unterschiede zwar bestehen, aber nicht so gravierend sind, wie oft behauptet wird. Er führt an, dass der Osten in den letzten Jahren wirtschaftlich aufgeholt hat und in einigen Bereichen sogar besser dasteht als der Westen. Beispielsweise hat der Osten durch Investitionen in grüne Zukunftstechnologien und moderne Arbeitsplätze wirtschaftliche Fortschritte gemacht. Dennoch bleibt die Wahrnehmung bestehen, dass der Osten benachteiligt ist, was zu einer anhaltenden Frustration und einem Gefühl der Marginalisierung führt. Diese Wahrnehmung wird durch politische und mediale Diskurse verstärkt, die die Unterschiede zwischen Ost und West betonen. Diese wirtschaftlichen Unterschiede bestehen weiterhin und beeinflussen die Lebensqualität und die wirtschaftlichen Chancen der Menschen im Osten. (Müller, 2024)
Die wirtschaftliche Integration des Ostens in den Westen fand nicht auf Augenhöhe statt. Vielmehr wurde der Osten als “Nachbau West” betrachtet, ohne seine Eigenheiten zu berücksichtigen. Diese Sichtweise hat dazu geführt, dass viele Menschen im Osten das Gefühl haben, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in ihren Partizipationsmöglichkeiten und ihrem Teilhabevermögen abgehängt zu sein.
Mau betont, dass die wirtschaftliche Ungleichheit nicht nur eine Frage der materiellen Ressourcen ist, sondern auch der sozialen Anerkennung. Die Menschen im Osten fühlen sich oft als Bürger zweiter Klasse, was laut Umfragen bis zu zwei Drittel bestätigen (Die Bundesregierung, 2020), was zu einer tiefen Frustration und Entfremdung führt. Anhaltende wirtschaftliche Schwäche könnte zu weiterer Abwanderung und sozialer Unzufriedenheit führen, doch Investitionen in Infrastruktur und Bildung könnten langfristig die wirtschaftliche Lage verbessern.
Gatzka betont, dass die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West nicht nur auf die Planwirtschaft der DDR zurückzuführen sind, sondern auch auf die ungleiche Verteilung von Investitionen nach der Wiedervereinigung. Sie argumentiert, dass gezielte Förderprogramme notwendig sind, um diese Unterschiede langfristig zu überwinden (Fischer & Schnurr, 2024).
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die demografischen Entwicklungen. Die Bevölkerungsentwicklung und Migrationstrends im Osten führen zu einem Bevölkerungsrückgang und verstärkter Abwanderung. Nach der Wiedervereinigung wanderten viele junge, gut ausgebildete Menschen in den Westen ab, um bessere wirtschaftliche Chancen zu suchen. Dies führte zu einem demografischen Ungleichgewicht im Osten. Der Bevölkerungsrückgang und die Abwanderung verstärken die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Osten und erschweren die regionale Entwicklung.
Die Abwanderung junger Menschen aus dem Osten hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und kulturelle Folgen. Sie verstärkt das Gefühl der Marginalisierung und Isolation in den betroffenen Regionen. Mau betont, dass die demografischen Veränderungen im Osten zu einer Alterung der Bevölkerung führen, was zusätzliche Herausforderungen für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringt. Die Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme durch den Verlust junger Talente ist ein ernstzunehmendes Risiko.
Gatzka hebt hervor, dass die Abwanderung junger Menschen aus dem Osten nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle und soziale Ursachen hat. Sie plädiert für eine stärkere Förderung regionaler Kulturprojekte, um die Attraktivität des Ostens für junge Menschen zu erhöhen (Fischer & Schnurr, 2024).
Laut Statistischem Bundesamt (2024) hat die Bevölkerung im Osten Deutschlands seit der Wiedervereinigung um 15 % abgenommen, während sie im Westen um 10 % gewachsen ist. Die Abwanderung führt zu einem Männerüberschuss in einigen Regionen, was zusätzliche soziale Herausforderungen, wie Frustration und Perspektivlosigkeit durch und bei der Partnersuche, sozialer Isolation und einem Anstieg rechtsextremer Tendenzen mit sich bringt (MDR, 2022). In den ostdeutschen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg kommen auf 1.000 Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren etwa 1.146 Männer (Destatis, 2023). Die demografischen Veränderungen verstärken die wirtschaftlichen und sozialen Probleme und erschweren die regionale Entwicklung (Zeit, 2024).
„Das Bewusstsein, ein kollektives ostdeutsches Wir zu sein, ist mit dem Ende der DDR nicht kollabiert, sondern hat sich in gewisser Weise erst damals verfestigt, weil man mit seinen Erfahrungen auf sich und eine Bezugsgruppe zurückverwiesen wurde – ein Phänomen, das auch von migrantischen Gruppen bekannt ist“ (Mau, 2024, S. 71).
Die politische Landschaft im Osten ist stark von den Erfahrungen in der DDR geprägt. Historische Erfahrungen beeinflussen das Wahlverhalten und die politischen Präferenzen der Menschen im Osten. Die autoritäre Herrschaft der SED und die Überwachung durch die Stasi haben ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen hinterlassen. Dies führt zu einer höheren Anfälligkeit für populistische Parteien und Bewegungen.
Dieses Misstrauen und die unterschiedlichen politischen Präferenzen führen zu einer Fragmentierung der politischen Landschaft und können politische Instabilität fördern.
Die politische Kultur im Osten ist durch eine “Demokratie der Distanz” geprägt, in der viele Menschen sich von den politischen Prozessen entfremdet fühlen. Diese Distanz hat ihre Wurzeln in der DDR-Zeit, in der politische Partizipation stark eingeschränkt war. Mau argumentiert, dass diese historische Prägung zu einer tiefen Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen geführt hat. Viele Ostdeutsche haben das Gefühl, dass ihre Stimmen nicht gehört werden und dass politische Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden.
Dass eine stärkere Bürgerbeteiligung und alternative Formen der Demokratie notwendig sind, um das Vertrauen in staatliche Institutionen wiederherzustellen, darin stimmen Mau und Gatzka überein. Jedoch sieht die Historikerin die politische Fragmentierung im Osten als Folge der historischen Erfahrungen in der DDR (Fischer & Schnurr, 2024).
Auch die kulturelle Identität und Prägung der Menschen im Osten unterscheiden sich aufgrund der DDR-Vergangenheit. Die DDR-Erfahrung hat eine spezifische ostdeutsche Identität geschaffen, die sich von der westdeutschen unterscheidet. Diese Identität ist geprägt durch gemeinsame Erfahrungen und Werte, die in der DDR-Zeit entwickelt wurden. Mau argumentiert, dass diese Identität durch eine starke Betonung von Gemeinschaft und Solidarität gekennzeichnet ist, während im Westen eher individuelle Werte und Wettbewerb im Vordergrund stehen.
Diese Prägungen durch die DDR-Erfahrung sind tief in der kollektiven Erinnerung verankert. Diese kollektive Erinnerung umfasst nicht nur die Erfahrungen der Repression und Kontrolle, sondern auch positive Aspekte wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit und die sozialen Sicherungssysteme der DDR. Mau betont, dass diese duale Prägung – einerseits Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, andererseits eine starke Gemeinschaftsorientierung – ein wesentlicher Faktor für die anhaltenden Differenzen zwischen Ost und West ist. Diese kulturellen Unterschiede führen zu Missverständnissen und einer gewissen Entfremdung zwischen Ost und West. Kulturelle Entfremdung und Missverständnisse zwischen Ost und West sind Risiken, die durch kulturellen Austausch und gemeinsame Projekte gemindert werden könnten. Solche Initiativen könnten das Verständnis und die Integration fördern.
Gatzka argumentiert, dass die kulturelle Identität im Osten nicht nur durch die DDR-Vergangenheit geprägt ist, sondern auch durch die Erfahrungen der Wiedervereinigung. Sie hebt die Bedeutung von kulturellem Austausch und gemeinsamen Projekten, um das Verständnis zwischen Ost und West zu fördern hervor (Fischer & Schnurr, 2024).
„Ostdeutschland mangelt es bis heute an einem robusten sozialmoralischen und sozialstrukturellen Unterbau, der Toleranz, ein empathisches Demokratieverständnis und ein Bekenntnis zu den Prinzipien der liberalen Ordnung tragen könnte.“ (Mau, 2024, S. 112).
Zudem sind die sozialen Unterschiede nicht zu übersehen. Die sozialen Netzwerke und das zivilgesellschaftliche Engagement im Osten sind schwächer. Die kollektive Struktur der DDR-Gesellschaft ließ weniger Raum für individuelle Initiativen und zivilgesellschaftliches Engagement. Die Menschen waren stärker auf staatliche Strukturen angewiesen. Diese schwächeren sozialen Netzwerke und das geringere Engagement führen zu einer geringeren sozialen Mobilität und einer stärkeren sozialen Isolation. Beides sind Risiken, die es zu überwinden gilt. Darum ist die Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement und sozialen Initiativen auch so wichtig.
Die DDR-Gesellschaft war stark kollektivistisch geprägt, was zu einer geringeren individuellen Initiative führte. Diese Prägung wirkt bis heute nach und beeinflusst das soziale Verhalten und die Netzwerke im Osten. Mau betont, dass die sozialen Strukturen im Osten durch eine starke Abhängigkeit von staatlichen Institutionen gekennzeichnet sind. Diese Abhängigkeit hat zu einer Schwächung der Zivilgesellschaft geführt, da viele Menschen nicht gelernt haben, eigenständig soziale Netzwerke aufzubauen und zu pflegen. Zudem zeigt Mau auf, dass die DDR-Gesellschaft durch eine umfassende staatliche Kontrolle und Überwachung geprägt war, was das Vertrauen in staatliche Institutionen nachhaltig beschädigt hat. Diese Misstrauenskultur wirkt bis heute nach und erschwert den Aufbau stabiler sozialer Netzwerke.
„Womöglich ist Ostdeutschland sogar dazu prädestiniert, ein Labor der Partizipation zu werden, nicht nur eine Werkstatt des Nachbauens nach Schema F bzw. West.“ (Mau, 2024, S. 129)
Aufgrund der geringen Verwurzelung der Parteien plädiert Mau für alternative Formen der Demokratie und stärkere Bürgerbeteiligung, um die Menschen im Osten besser einzubinden. Er sieht in der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Förderung von Partizipationsmöglichkeiten wichtige Schritte zur Überwindung der Unterschiede. Eine stärkere Bürgerbeteiligung und die Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement könnten die sozialen und politischen Strukturen im Osten stärken und die bestehenden Unterschiede verringern.
Auch dem Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2024 lässt sich entnehmen, dass die Unterschiede zwischen Ost und West nach wie vor spürbar sind. Der Bericht betont, dass Ostdeutschland in den letzten Jahren wirtschaftlich schneller gewachsen ist als der Westen, was auf Investitionen in grüne Zukunftstechnologien und moderne Arbeitsplätze zurückzuführen ist. Zudem wird die Bedeutung der kulturellen Identität und der kollektiven Erinnerung hervorgehoben, die weiterhin eine Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung spielen (Die Bundesregierung, 2024).
In einem aktuellen Beitrag des Tagesspiegels wird die Notwendigkeit einer Verfassungsreform diskutiert, um das “Wir”-Gefühl in Deutschland zu stärken. Der Chefredakteur Christian Tretbar betont, dass gemeinsame Werte und eine stärkere Bürgerbeteiligung entscheidend sind, um die Einheit zu fördern (Tretbar, 2024).
Die Einführung von Bürgerräten, in denen zufällig ausgewählte Bürger über politische Sachthemen beraten, könnte die politische Kultur revitalisieren. Diese Bürgerräte könnten dazu beitragen, dass sich die teilnehmenden Bürger selbst als Zoon politikon erleben, im Hinblick auf die eigenen Interessen und die des Gemeinwohls und somit eine stärkere Bindung an die demokratischen Prozesse entwickeln (Mau, 2024, S. 136). Den Status Quo beibehalten – ein „Weiter so” – ist keine Option; innovative Partizipationsformen sind notwendig, um die Demokratie zu stärken und die bestehenden Ungleichheiten zu überwinden.
„Fürwahr: Die Demokratie steht unter Druck, aber wir haben die Möglichkeiten sie zu verteidigen und zu sichern noch lange nicht ausgeschöpft. Und zwar weder in Ost- noch in Westdeutschland.“ (Mau, 2024, S. 145)
Unsere Arbeit als ZOON e.V. knüpft genau an diesen Punkten an. Wir setzen uns für eine Stärkung und Entwicklung unserer Demokratie ein. Die Förderung von Bürgerbeteiligung und die Stärkung der Zivilgesellschaft sind zentrale Anliegen, die auch in den Analysen von Steffen Mau und der Argumentation von Claudia Gatzka eine wichtige Rolle spielen. Durch Projekte und Initiativen, die auf Partizipation und Selbstorganisation setzen, können wir dazu beitragen, die beschriebenen Herausforderungen zu bewältigen und die Demokratie in Deutschland zu stärken.
Herzliche Grüße
Phillip Panhans
Literatur
- Die Bundesregierung (2020). Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Bundesministerium des Innern und für Heimat.
- Die Bundesregierung (2024). Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen. Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland.
- Fischer S. & Schnurr E.-M. (2024): DDR-Gründung vor 75 Jahren – Der Minderwertigkeitskomplex ist in vielen Ostdeutschen abgespeichert. Spiegel
- Mau, S. (2024): Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt. Suhrkamp.
- MDR. (2022). Männerüberschuss in Sachsen-Anhalt und Thüringen.
- Müller, H. (2024). 34 Jahre Deutsche Einheit: Der Osten bekommt zu viel Aufmerksamkeit. Spiegel.
- Statistisches Bundesamt. (2024). Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland zwischen 1990 und 2022: Angleichung oder Verfestigung der Unterschiede?
- Statistisches Bundesamt. (2023). Demografischer Wandel und Geschlechterverhältnis in Deutschland.
- Tretbar, C. (2024). Tag der Deutschen Einheit 2024: Zeit für eine neue Verfassung? Tagesspiegel.
- Zeit Online. (2024). Ostdeutschland: Abwanderung junger Menschen und demografische Herausforderungen.
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