Demokratische Begegnungsorte und die Kontakthypothese

Kontakthypothese: Demokratie braucht Begegnungsorte. Orte, an denen sich Menschen austauschen können, die sich nicht gezielt über den Weg laufen. Wir alle leben in unseren sozialen Blasen aus Freund:innen, Bekannten und Verwandten. Abgesehen von unserer Herkunftsfamilie suchen wir uns den sozialen Kreis selbst aus und sind nur selten mit deutlich anderen Lebensperspektiven konfrontiert. Zudem wählen wir Wohnorte mit ähnlichen Menschen. Somit entsteht ein Mangel an Begegnungen für demokratische Diskurse zu unterschiedlichen Sichtweisen.

Wie viele Menschen kennst Du, die in völlig anderen sozialen Wirklichkeiten leben als Du? Wenn Du Akademiker bist: Mit wie vielen Handwerker:innen hast Du schon politische Diskussionen geführt? Oder mit wie vielen Arbeitslosen deren Situation gemeinsam reflektiert? Oder gar mit Obdachlosen darüber gesprochen, wie sie in diese Situation gekommen sind und was sie über unsere Demokratie und Politik denken? Mit wie vielen Menschen hast Du über deren direkte Migrationserfahrung zugehört? Genau das ist ein erhebliches Problem: Wir gleichen uns fast alle darin, dass wir nur sehr selten, falls überhaupt, solche großen Perspektivwechsel einnehmen. Ohne diesen Schritt sind wir jedoch nicht in der Lage, zu gemeinsamen, tragfähigen Lösungen zu finden.

Soziale Segregation

Das Problem mangelnder Perspektivwechsel infolge unserer sozialen Blasen wird durch soziale Segregation verschärft, also Ballung von gesellschaftlichen Gruppierungen entlang verschiedener Dimensionen an bestimmten Orten. “Das Beobachtungsgebiet ist entlang bestimmter Merkmale segregiert, wenn eine bestimmte Gruppe oder ein spezifisches Element in Teilen des Beobachtungsgebietes konzentriert auftritt, in anderen dagegen unterrepräsentiert ist.” (Wikipedia) So zeigte eine Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung WZB verschiedene Segregationen (Helbig & Jähnen 2018):

Die Segregation von Armen nahm schon von Mitte der 1990er bis 2004 zu. Nach den Hartz IV Reformen ging dieser Trend weiter.

  • “In vielen deutschen Städten ballen sich Personen mit Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II … zunehmend in bestimmten Stadtteilen.
  • Besonders hat sich die Situation in den meisten ostdeutschen Städten verschärft.” (a.a.O.: 1)
  • “Die soziale Spaltung der Städte bei Kindern bzw. Familien mit Kindern [ist] stärker ausgeprägt als bei der Gesamtbevölkerung. Räumlich besonders ungleich verteilen sich also Kinder in Haushalten mit SGB-II-Bezug.” (ebd.)
  • Die Segregation nach Altersgruppen nimmt zu: 15-29 Jährige und über 65 Jährige ballen sich immer mehr in bestimmten Stadtteilen.

Eine Folgestudie des WZB bestätigte und verfeinerte diese Ergebnisse (Helbig 2023). Auf der Basis von Datensätzen aus Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit konnten 153 deutsche Städte untersucht und unter anderem Folgendes herausgearbeitet werden:

Die soziale Polarisierung der Armut entwickelte sich von 2005 bis 2022 regional unterschiedlich. In Ostdeutschland nahm sie zu und erreichte schließlich ein “Plateau auf einem deutlich höheren Ungleichheitsniveau als in den anderen Regionen… Aber auch in den norddeutschen Städten ist die Armutssegregation vergleichsweise hoch, weist aber im Zeitverlauf eine geringere Dynamik auf.” (a.a.O.: 9) Vor allem in Städten im Ruhrgebiet zeigte sich seit 2014 ein steter Anstieg der Armutssegregation. In süddeutschen Städten sank insbesondere nach 2014 die soziale Segregation.
In allen Städten ist die Ungleichverteilung armer Kinder stärker als die allgemeine Armutssegregation.
Bei der Altersarmut zeigt sich genauso wie bei der allgemeinen Armut ein steigender Zusammenhang mit dem Anteil von Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit.
Bildungs- und Einkommenssegregation sind weniger deutlich als die Armutssegregation.
Armutssegregation steigt in Städten mit hohem Wohnungsleerstand und relativ niedrigen Mieten. Angespannte Mietmärkte führen hingegen zu einer Reduktion der Segregation.

In Online-Netzwerken wie Facebook finden sich naheliegenderweise ebenfalls Segregationen: “Die Ergebnisse zeigen, dass große Online-Netzwerke stärker nach ethnischer Zugehörigkeit als nach Geschlecht segregiert sind. Auf der Grundlage derselben Umfragedaten stellen wir fest, dass Kernnetzwerke in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht stärker segregiert sind als erweiterte Netzwerke.” (Hofstra et al. 2017)

Die Kontakthypothese

1954 entwickelte der amerikanische Sozialpsychologe Gordon Allport seine Kontakthypothese, die seitdem weiterentwickelt und im Großen und Ganzen immer wieder bestätigt wurde: Die Begegnung von kulturell und sozial unterschiedlichen Menschen ermöglicht es, Vorurteile, Stereotype und mit ihnen verbundene Ablehnungen bis zu Feindseligkeiten zu reduzieren. Dadurch kann das Verständnis für die je anderen Menschen und die Akzeptanz von ihnen signifikant gesteigert werden. Nur in Begegnungen können wir anderen Menschen (persönlich) gegenübertreten und uns einfühlsam mit ihnen auseinandersetzen. Durch diese gemeinsame Erfahrung kann dann Vertrauen aufgebaut werden.

Wichtig ist dabei, dass der bloße Kontakt laut Allport alleine im Allgemeinen nicht den beschriebenen positiven Effekt hat: Begegnungen entfalten ihre Wirkung insbesondere dann, “wenn die Personen in der Kontaktsituation (1) kooperative Ziele verfolgen… , von (2) gleichem Status sind, (3) miteinander interagieren müssen, um ihre Ziele zu erreichen, und der Kontakt (4) von Autoritäten unterstützt wird.” (Dorsch Online Lexikon der Psychologie) In einer Metaanalyse mit mehr als 250 000 Befragten konnte jedoch gezeigt werden, dass der positive Effekt selbst dann robust ist und beobachtet werden kann, wenn die von Allport formulierten Bedingungen nicht oder nur teils erfüllt sind (Pettigrew und Tropp 2006). In einer repräsentativen Untersuchung konnte für Deutschland gezeigt werden, dass ein zunehmender Anteil von Ausländern in Bezirken zum Sinken von Vorurteilen führt (Wagner et al. 2006). Tatsächlich haben sogar indirekte Kontakte über Freunde und Bekannte (Árnadóttir et al. 2018) sowie nur vorgestellte Kontakte positive Effekte (Bagci et al. 2017). Schließlich wurden natürlich auch virtuelle Online-Kontakte untersucht. Eine Metastudie von 23 Studien zeigte signifikante Effekte. Sie waren “stärker, wenn sich der induzierte Kontakt auf die Zusammenarbeit konzentrierte, aber nicht auf die Unterstützung der Interaktion durch eine Autoritätsperson oder das Vorhandensein von gemeinsamen Zielen”. (Imperato et al. 2021: 131).

Es gibt also vier wirksame Kontaktarten und mithin Begegnungsorte, um Vorurteile und damit verbundene Feindseligkeiten abzubauen und wieder in einen demokratischen Diskurs zu kommen:

  • Real
  • Virtuell
  • Indirekt
  • Vorgestellt

Begegnungsorte neu gedacht

Was wäre, wenn wir Alltagsorte als demokratische Begegnungsorte neu denken würden? Wenn sie nicht nur funktionale Räume wären, sondern auch lebendige Zentren des sozialen Austauschs und der demokratischen Teilhabe? Ein solcher Ansatz eröffnet vielfältige Möglichkeiten, wie wir unsere Demokratie und ihre Werte fördern können. Dazu ist es nützlich zwei Typen von Alltagsorten zu unterscheiden: Öffentliche zugängliche wie Straßen, Plätze, Parks, Bibliotheken, Museen, Geschäfte etc. Und solche, die nicht öffentlich zugänglich sind: Arbeitgebende Organisationen wie Unternehmen, Verwaltungen, NGOs und Vereine. Gerade Letztere wären eine besonders gute Möglichkeit, da dort aktuell 45 Millionen Erwerbstätige in Deutschland täglich ihrer Arbeit nachgehen und Kolleg:innen mit anderen biografischen und demografischen Hintergründen sowie politischen Ansichten treffen, die sie in ihrem Privatleben niemals oder kaum sehen würden. Dazu hatte ich bereits einen Beitrag bei den unternehmensdemokraten veröffentlicht.

An und in diesen Orten sind verschiedene Möglichkeiten denkbar, wie wir dort den sozialen Austausch und demokratische Teilhabe entgegen individueller Blasen und sozialer Segregationen hinaus fördern könnten. Ein schönes Beispiel ist der Braver Space des Juden Shai Hoffmann und Palästinensers Ahmad Dakhnousn. Die beiden stellten ein Tiny House während der Berlinale 2024 auf den Potsdamer Platz und luden Menschen dazu ein, “sich mit [ihnen] … über ihre Gedanken, Meinungen und vor allem ihre Gefühle bezüglich Israel/Palästina auszutauschen.” (Guggenberger 2024) Statt eines öffentlichen Platzes nutzt die “Lebendige Kiezbibliothek” Bibliotheken, bei der man sich statt Büchern Menschen “ausleihen” kann, die einem ihre Lebensgeschichte erzählen und mit denen man in einen Austausch gehen kann. Ein weiteres Beispiel sind Kleingärten als generationenübergreifende Begegnungsorte.

Wir werden im Laufe der Zeit weitere demokratische Begegnungsorte kreieren und unseren Beitrag dazu leisten, die Blasen und Ballungsräume zu überwinden. Denn davon lebt unsere Demokratie: Miteinander reden, auch wenn wir nicht einer Meinung sind.

Herzliche Grüße
Andreas

Literatur

  • Bagci, S.; Piyale, Z. und Ebcim, E. (2017): Imagined Contact in High Conflict Settings: The Role of Ethnic Group Identification and the Perspective of Minority Group Members. Journal of Applied Social Psychology, 48(1): 3–14.
  • Beck, S.; Perry, T. (2008): Studie Soziale Segregation. Bundesverband Wohnen und Stadtentwicklung
  • Goebel, J.; Hoppe, L. (2015): Ausmaß und Trends sozialräumlicher Segregation in Deutschland. Abschlussbericht. Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
  • Guggenberger, J. (2024): Einladung in den Braver Space. taz online
  • Helbig, M., Jähnen, S. (2018): „Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte?“ Discussion Paper. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
  • Helbig, M. (2023): Hinter den Fassaden. Zur Ungleichverteilung von Armut, Reichtum, Bildung und Ethnie in den deutschen Städten. Discussion Paper. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
  • Hofstra, B.; Corten, R.; Van Tubergen, F. et al. (2017): Sources of Segregation in Social Networks: A Novel Approach Using Facebook. American Sociological Review, 82(3): 625–656
  • Imperato, C.; Schneider, B.; Caricati, L. et al. (2021): Allport Meets Internet: A Meta-Analytical Investigation of Online Intergroup Contact and Prejudice Reduction. International Journal of Intercultural Relations (81): 131–141
  • Pettigrew, T., Tropp, L. (2006): A Meta-Analytic Test of Intergroup Contact Theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90(5): 751–783
  • Wagner, U.; , Christ, O.; Pettigrew, T. et al. (2006): Prejudice and Minority Proportion: Contact Instead of Threat Effects. Social Psychology Quarterly, 69(4): 380–390

No responses yet

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien
Schlagworte
Es sind keine Kommentare vorhanden.