Mit diesem Beitrag verknüpfe ich zwei Ansätze: Erstens das innere Parlament als Metapher unserer verschiedenen inneren Anteile. Zweitens, unser Verständnis von Demokratie als Beziehungsarbeit. Denn die grundlegende Beziehung ist die zu uns selbst.
Das innere Team
Wir alle kennen sie: Unsere inneren Stimmen, die sich manchmal einig sind und ein anderes Mal erbittert streiten. Soll ich den Job kündigen oder bleiben? Den Tiefschlag meines Vaters vergeben oder Grenzen setzen? Manche inneren Anteile (er)kennen wir mit großer Klarheit, andere sind nur Schemen im Nebel, und wieder andere verdrängen wir aktiv, um dem damit verbundenen Schmerz oder der Scham aus dem Weg zu gehen. Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun hat diese Dynamik unter dem Begriff des inneren Teams bekannt gemacht, ein Modell, das unsere psychische Vielstimmigkeit nicht als Störung, sondern als Ausdruck menschlicher Komplexität versteht. Neben dem inneren Team (Schulz von Thun 1998) gab es schon zuvor ähnliche Ansätze mit etwas anders gelagerten Metaphern, wie der „inneren Familie“ (Schmidt 2000, 2003, Schwartz 1997). Was Schulz von Thun mit Blick auf persönliche Kommunikation formuliert hat, lässt sich aber auch demokratisch-politisch deuten, als Urgrund demokratischer Beziehungserfahrung:
Das innere Team besteht aus verschiedenen Mitgliedern, die jeweils unterschiedliche Bedürfnisse, Werte, Erfahrungen und Charakteranteile repräsentieren. Da gibt es einen mutigen Teil, der Veränderung will, einen vorsichtigen, der Sicherheit sucht, der kritische, das alles infrage stellt, einen verletzlichen oder traurigen, der lange nicht zu Wort kam und so weiter. Manche dieser Stimmen melden sich lange nicht. Nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil sie befürchten, nicht gehört, marginalisiert oder angegriffen zu werden, wenn sie ganz sie selbst sind. Wir blicken im inneren Team also auf ein äußerst buntes und vielschichtiges soziales System.
Wer oder was dabei als Teammitglied fungiert, ist höchst individuell. Das können unsere Grundgefühle sein oder konkret visualisierbare Versionen unserer Selbst [1]. Entscheidend ist weniger, dass diese Stimmen da sind, sondern eher wie sie miteinander umgehen dürfen und können: Wer hat das (letzte) Wort? Wer wird übergangen? Wer ist laut, wer leise? Wer wird aus den jeweiligen Reflexionen und Entscheidungsprozessen sogar ganz ausgeschlossen? Schulz von Thun beschreibt das Ziel als eine Form der inneren Führung, die sowohl auf Klarheit als auch auf innerer Integration beruht.
Gerade in Zeiten von Ambivalenz, Beschleunigung, kollektiver Verunsicherung und Dissoziation bietet das Konzept des inneren Teams einen kraftvollen Resonanzraum. Wenn wir Demokratie nicht nur als institutionelle Struktur, sondern als Praxis innerer Aushandlung verstehen, beginnt sie genau hier: In der bewussten Wahrnehmung unserer inneren Vielfalt. Es erlaubt uns, nicht nur Entscheidungen bewusster zu treffen, sondern uns selbst als mehrdimensionale Wesen zu begreifen, die nicht nur ein einziges monolithisches Selbst sind, sondern vielmehr aus verschiedenen, oftmals konfligierenden inneren Anteilen bestehen. Um sich nicht selbst zu blockieren, ist die Arbeit mit diesen Anteilen wertvoll und wirksam, besonders (natürlich) mit denjenigen Anteilen, mit denen wir schon lange nicht mehr in Kontakt und im Austausch waren. Wenn wir nicht seelisch verknöchern sondern uns weiterentwickeln wollen, braucht dieses innere Wachstum die immer wieder neu zu verhandelnde Integration unserer verschiedenen Anteile.
Das innere Parlament
Die Weiterentwicklung zum inneren Parlament vollzog der Volkswirt, Arzt und systemische Familientherapeut Gunter Schmidt bereits vor über 20 Jahren (Schmidt 2000, 2003). Allerdings blieb der Anwendungskontext weiterhin die therapeutische Arbeit im Rahmen von systemischer Psychotherapie. Ich verändere mit diesem Beitrag also nicht mehr die Metapher an sich, sondern deren Anwendungskontext: Weg von der Therapie hin zur Demokratieentwicklung, die grundsätzlich bei jedem von uns anfängt. Demokratie beginnt eben nicht nur auf der Straße oder im Wahllokal – sondern in den alltäglichen Beziehungsmustern, in denen wir uns selbst und anderen begegnen. Genau hier setzt auch die Arbeit von ZOON e.V. an: in der Demokratisierung von Arbeits- und Lebensräumen. Unsere persönlichen demokratischen Haltungen, Kompetenzen und Selbstwirksamkeitserwartungen sind dabei eine von mehreren Grundlagen für eine gelingende gesellschaftliche Demokratie: Die Fähigkeit zuzuhören, Perspektivwechsel vorzunehmen, Konfliktfähigkeit und Kompromisskompetenz – das sind nicht nur soziale Skills, sondern demokratische Basiskompetenzen. Denn wenn umgekehrt der Mehrheit Demokratie egal oder sogar unangenehm wäre; wenn die meisten von uns nicht fähig wären, zuzuhören oder Kompromisse zu schließen; wenn das Gros ständig daran zweifeln würde, selbstwirksam sein zu können – dann wird es schwierig mit der Demokratie, demokratische Strukturen hin oder her.
Wir alle verfügen als demokratisches Selbst über die Vielfalt des inneren Parlaments mit seinen verschiedenen Akteuren: Vordergründig wären da zunächst die formalen Rollen: die Kanzlerin, die Regierung mit ihren verschiedenen Fraktionen und deren Vorsitzenden, die Opposition, ebenfalls mit diversen Fraktionen und der Bundestagspräsident. Aber es gibt noch deutlich mehr Möglichkeiten, dieses Parlament zu bevölkern: Der Menschenrechtsbeauftragte, der Schattenminister (für Bildung, Verteidigung, Finanzen…), die Lobbyistin für alte Verhaltensmuster, der Flüchtling, der die Herkunftsfamilie verließ, der Beziehungs-Populist, die Vorsitzende des Geschwisterrats und so weiter und so fort. Und dann gibt es auch noch Parlamentsmitglieder, die immer wieder fehlen. Sei es aus Enttäuschung, Angst, Scham… Doch ihr Platz wird nicht unbedingt gestrichen. Er kann frei bleiben. So wird Demokratie zur (inneren) Beziehungsarbeit (vgl. Zeuch und Pirouzkar-Moser 2025).
Darüber hinaus ist das Parlament nicht nur durch seine Mitglieder definiert, sondern auch durch seine Verfahrensweisen: Wie wird diskutiert, wer darf wann sprechen und wie wird entschieden? Hier beginnt der eigentliche Unterschied zur äußeren Demokratie. Denn im Inneren können wir unsere eigenen Formen der Verständigung entwickeln, jenseits ritualisierter und längst erstarrter Debatten oder Abstimmungsprozesse des „echten“ Parlaments. Unser Inneres muss nicht auf Mehrheiten setzen, sondern kann auf KonsenT, Dialog, Empathie und sogar ganz offiziell auf unsere Intuition und unser Nichtwissen bauen. Viele dieser Elemente erprobt auch die Demokratiepädagogik im Außen – etwa mit Methoden wie der Zukunftswerkstatt, gewaltfreien Kommunikation oder deliberativen Formaten. Das innere Parlament wird so zum Übungsraum für gesellschaftliche Demokratieformen. Wir können neue Gestalten ausprobieren: Schweigezeiten für dominante Stimmen, Rederecht für übergangene Anteile, symbolische Anhörungen der inneren Minderheiten. Kurz: Das innere Parlament ist ein weites Übungsfeld für kreative, radikal individuelle Demokratieformen – jenseits institutioneller Routinen im Innen wie Außen. Womit wir beim nächsten Abschnitt sind:
Innere Kommunikation und Entscheidungen
In den meisten Demokratien – auch in der Bundesrepublik – folgt politische Entscheidungsfindung bis heute einem tradierten Muster: lineare Redebeiträge, formale Debatten, Mehrheitsabstimmungen. Dieses Verfahren hat historische Gründe, aber es wird zunehmend fragwürdig. Denn Komplexität, Ambivalenz und emotionale Tiefendynamiken lassen sich nicht in eine simple Entweder-Oder-Logik pressen. Besonders dann nicht, wenn es um Beziehungsthemen, psychische Transformation oder innere Entwicklungsprozesse geht. Im inneren Parlament sind wir zwar frei, neue Formen auszuprobieren – ohne Geschäftsordnung, aber mit demokratischer Haltung [2]. Allein: diese demokratische Haltung reicht noch nicht – sie braucht auch Räume, in denen sie sich entfalten kann. Im lnnen wie Außen.
Warum sollten wir also unsere inneren Konflikte wie Bundestagsdebatten führen? Warum sollten wir äußere Formate und Traditionen in unsere Innenwelt übernehmen, ohne sie zu hinterfragen? Warum nicht neue, situativ stimmigere Formate wählen: Dialogrunden mit Redezeitbegrenzung? KonsenTverfahren mit Vetorecht für verletzte Stimmen? Schweigezeiten, in denen nicht das lauteste Argument zählt, sondern das resonanteste Gefühl? Oder ein innerer Rat der Weisen, der nicht entscheidet, sondern klärt, was überhaupt zur Abstimmung steht? Die Arbeit mit dem inneren Parlament eröffnet Möglichkeiten jenseits des binären Denkens. Wir können Abstimmungen durch Befragung ersetzen, Konfrontation durch Kontakt zu uns selbst, Entweder-Oder durch ein Sowohl-als-Auch.
Das Spannende dabei: Das innere Parlament kennt keine Abschiebung. Schließlich können wir Erinnerungen nicht einfach löschen. Sie bleiben im Unbewussten wirksam, selbst wenn wir sie vergessen sollten. In einer reifen Demokratie muss sich nicht jede Stimme durchsetzen – aber jede Stimme will und sollte gehört werden. Wer innerlich abstimmt, bevor alle gesprochen haben, regiert nicht, sondern manipuliert sich selbst. Und wer immer nur die Mehrheit seiner Anteile entscheiden lässt, wird irgendwann von der Minderheit sabotiert. Der Preis für vermeintliche Effizienz ist oft innerer Widerstand. Darum liegt in der Selbstmoderation – in der bewussten Gestaltung von intrapsychischen Entscheidungsverfahren – ein enormes Potential für Selbstführung, Beziehungskompetenz und politische Kultur im besten Sinne.
Innere Zukunftswerkstatt anstelle öffentlicher Bundestagsdebatten. Stellen wir uns vor, unser inneres Parlament träte nicht im gewohnten Muster einer Bundestagsdebatte mit vorbereiteten Reden, Machtblöcken und Tagesordnungspunkten zusammen. Sondern als Zukunftswerkstatt: Ein offener Raum, in dem noch nicht klar ist, was herauskommen wird. Ein Ort, an dem nicht zuerst bewertet, sondern gesammelt wird. Nicht: Wer hat Recht? Sondern: Was fehlt noch? In so einem inneren Raum wäre auch Platz für Fragen ohne schnelle Antworten, sogar für Nichtwissen, das essentiell für wirklich neue Lösungen ist. Für Sehnsüchte, die noch keine Form haben. Für Stimmen, die sagen: „Ich weiß nicht, ob ich dazugehören will, aber ich will auch nicht länger draußen bleiben.“
Die Zukunftswerkstatt beginnt mit einer Phase des Zuhörens: einer Bestandsaufnahme der inneren Gegenwart. Wer ist gerade laut? Wer fehlt? Wer wird vertreten und wer nicht mehr eingeladen? Erst wenn klar ist, was da ist, darf die nächste Phase beginnen: das Fantasieren, Entwerfen, Spinnen. Wie sähe ein innerer Umgang aus, in dem nicht das bessere Argument gewinnt, sondern Resonanz? Welche Sprache würde unserem inneren verletzten Familienflüchtling eine Stimme geben? Wie müsste das Setting aussehen, damit auch wütende Anteile Raum bekommen? Und wer moderiert das Ganze – mit genug Ruhe, um nichts zu erzwingen und genug Liebe, um niemanden abzuschreiben und alle einzubinden?
Vielleicht gibt es in dieser inneren Zukunftswerkstatt auch einen stillen Gast. Jemand, der sich nicht anmelden musste, um da sein zu dürfen. Der lange auf der Empore saß, mit verschränkten Armen und düsterem Blick. Vielleicht ist es die Stimme, die schon lange und bis heute warnt – vor zu viel Nähe, vor Kontrollverlust, vor der eigenen Verletzlichkeit. Und vielleicht hört dieser Teil jetzt ein Wort, das er nicht erwartet hat. Kein Appell, keine Einladung. Nur ein inneres Klima. Vielleicht würde er sich dann ein klein wenig mehr gesehen und gewertschätzt fühlen. Vielleicht würde diese Stimme später sagen, sie habe nur zufällig vorbeigeschaut. Aber etwas in ihr weiß: Es war nicht Zufall. Es war Erinnerung. Und eine Ahnung davon, dass auch sie gemeint und willkommen ist. Kurzum: Im inneren Parlament können wir frank und frei unsere inneren Anteile auf eine viel produktivere und konstruktivere Weise in einen Dialog bringen, als das im „echten“ Parlament bis heute der Fall ist.
Einladung zum inneren Parlament

Von der „Innenpolitik“ zur Gesellschaftsgestaltung
Das innere Parlament ist viel mehr als ein psychologisches Modell. Es ist eine Einladung, Demokratie nicht nur als Staatsform zu verstehen, sondern als gelebte Beziehungskunst – zuerst mit uns selbst. Wer es verlernt hat, sich zuzuhören und einen liebevollen Dialog mit sich zu führen, wird es auch im Außen schwer haben, Pluralität auszuhalten; wer sich selbst in Mehrheiten und Minderheiten ohne Vermittlung aufspaltet; wer versucht, unliebsame Anteile, die Angst oder sonstiges Unbehagen auslösen, abzuschieben, wird auch in der Gesellschaft eher strikte Lager bilden als Brücken bauen. Unser demokratisches Er-Wachsen beginnt im Mikrokosmos unseres Erlebens und unserem Umgang mit uns selbst; in der Art, wie wir mit unseren Ambivalenzen, inneren Stimmen und Konflikten verfahren, mit unseren Träumen, Sehnsüchten, Verletzungen – und auch all unseren Potenzialen, die wir uns vielleicht nicht trauen zu verwirklichen.
Wenn wir lernen, in unseren Familien, Freundschaften und Organisationen nicht nur rational zu argumentieren, andere totzureden oder niederzubrüllen, sondern zuzuhören und erst einmal nachhaltig zu integrieren anstatt gleich zu entscheiden – dann wächst etwas heran, das auch auf der kommunalen und gesellschaftlichen Ebene trägt. Dann entsteht eine Demokratie, die nicht nur repräsentiert, sondern auch resoniert; die nicht nur verwaltet, sondern verbindet. Die nicht nur halbwegs funktioniert (was ja schon viel wäre), sondern lebendig ist. Und vielleicht ist genau das die tiefe Verbindung zwischen individueller Selbstführung und politischer Kultur: dass wir irgendwann auch im Großen das üben, was wir im Kleinen verlernt haben oder verkümmern ließen – oder eben kultivieren können.
Demokratie beginnt im Lauschen – manchmal auf Stimmen, die kaum hörbar sind.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Ich selbst arbeite seit Ende der 1990er immer wieder mit meinem inneren Team. Bei mir besteht es aus verschiedenen Versionen meiner Selbst in verschiedenen Altersklassen vom Kind bis zum Greis, mit verschiedenen Charakteren und Ausstrahlungen, die für mich wichtige archetypische Themen repräsentieren (der Sportler, der Narr, der Wissenschaftler, der Liebhaber, der Vater, der Krieger, der Mönch…)
[2] Nach einem mehr oder minder ausgeprägten Haltungshype schlägt das Pendel gewohnt zu anderen Seite aus. Haltung wird zunehmend für irrelevant erklärt, wir müssen Strukturen und Prozesse ändern, dann entsteht automatisch auch eine neue Kultur des Miteinander. Stellt sich nur die Frage, wer mit antidemokratischer Attitüde die nötigen strukturellen und prozessualen Veränderungen initiiert, legitimiert, umsetzt und aufrecht erhält? Wir brauchen mal wieder beides, kein Entweder-Oder sondern ein Sowohl-Als-Auch: Haltung sowie Arbeit an demokratischen Strukturen, Prozessen und Kultur.
Literatur
- Schulz von Thun, F. (1998): Miteinander Reden. 3: Das Innere Team und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt
- Schmidt, G. (2000): Konferenzen mit der inneren Familie. In P.U. Hesse (Hrsg.), Teilearbeit: Konzepte von Multiplizität in ausgewählten Bereichen moderner Psychotherapie. Carl-Auer-Systeme.
- Schmidt, G. (2003). Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Hypnosystemische Utilisationskonzepte für Arbeit mit der inneren Familie. Auditorium Netzwerk-Verlag
- Schwartz, R. (1997): Systemische Therapie mit der inneren Familie. Klett-Cotta.
- Zeuch, A.; Pirouzkar-Moser, M. (2025): Im Dialog: Was macht Demokrat:innen aus? Blog von ZOON
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0
- Schatten an der Wand: ©Foad Roshan, unsplash lizenzfrei
- Schatten auf dem Bürgersteig: ©Feodor Chistyakov, unsplash lizenzfrei
- Illustration: ChatGPT, ©Prompt Andreas Zeuch
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